10 Jähriges – Diabetes-Anniversary

Lieber Diabetes,

Seit 10 Jahren gehen wir nun schon gemeinsam durchs Leben.

Durch dick und dünn, Krankheit und Gesundheit, Sport und Entspannung, Stress und Glück, Urlaub und Alltag. Du bist immer an meiner Seite.

Es ist, als wären wir verheiratet, nur dass ich mich nicht scheiden lassen kann und mich auch nie jemand gefragt hat, ob ich dich heiraten will.

Dein Antrag war ziemlich unromantisch. Es war mehr eine Erpressung: „Wenn du mir ab jetzt keine Aufmerksamkeit schenkst und dich um mich kümmerst, dann wirst du viel Zeit auf der Toilette verbringen, keinerlei Kraft mehr haben, trinken ohne dass sich dein Hals danach weniger trocken anfühlt, auf der Stimmungsachterbahn fahren und – falls du mich zu lange ignorierst – fallen wir ins Koma. Naja du. Hihi.“

Außerdem bist du ziemlich pingelig, lieber Diabetes. Ich erinnere mich noch genau an die Anfänge unserer Beziehung. Ich rannte zur Straßenbahn. „Vor dem Sport muss man Zucker zu sich nehmen!“, quäktest du.

Ich entgegnete: „Ich bin zwei Minuten zur Bahn gerannt, das ist doch kein Sport!“ – Wir unterzuckerten.

Diabetes, du bist ziemlich egozentrisch und Aufmerksamkeits-versessen. Wehe du bekommst Angst, jemand könnte dir die Show stehlen.

Ich liege mit Grippe im Bett? „Was Grippe kann, kann ich schon lange!“, sagst du und lässt den Blutzucker steigen, nur um meine Aufmerksamkeit an dich zu reißen, rasend vor Eifersucht auf die Grippe.

Ich fluche über Bauchkrämpfe während der Periode? „ Das ist GAR nichts.“, sagst du und lässt mich unterzuckern. „Jeder normale Diabetes sorgt während der Periode für zu HOHEN Blutzucker!“, schimpfe ich, „Kannst du dich nicht EINMAL so verhalten, wie man es von dir erwartet?“

„Sehe ich für dich normal aus?“, entgegnest du hochnäsig.

„Hey“, sagst du jetzt, „Wir hatten auch gute Zeiten. Durch mich kannst du superschnell Kopfrechnen. Sogar mit Kommas!“

„Und erinnerst du dich an Barcelona? Du warst mutterseelenallein mit deinem Fahrrad unterwegs und eine frische andere Diabetikerin hat dich sehr darum beneidet.“

„Barcelona war super.“, sage ich, „Aber was war in Rom? Du hast mich behindert wo es nur ging. Am ersten Tag habe ich mehr Zeit damit verbracht zu sitzen und Gummibärchen zu essen als rum zu laufen und Rom genießen zu können!“

„Dafür lasse ich dich in Klausuren in Frieden.“

Ich schaue finster. „Nimmt irgendjemand anderes seinen Ehepartner mit zu Klausuren? Und jetzt soll ich mich dafür bedanken, dass du dich währenddessen wenigstens nicht einmischst?!“

„Fakt ist, du hast mich jetzt an der Backe und ich lasse die niiiiiie wieder los, weil ich dich SO LIEB habe. Es heißt schließlich auch: Bis dass der Tod euch scheidet.“

„Manchmal ist es ja auch ganz lustig mit dir.“, sage ich versöhnlich. „Wenn mein Blutzucker zu hoch ist, ist das, als wäre ich trotz 0,0 Promille beschwipst. In meiner mündlichen Englisch-Abitur-Prüfung habe ich dank dir PERFORMT.“

„Dank dir weiß ich genau, welcher Sport wie viel Effekt bei mir hat. So eine perfekte Rückmeldung bekommen wahrscheinlich die wenigsten. Während meine Sportuhr behauptet, Fahrrad fahren sei entspannt – ich fühle mich dabei ja auch entspannt – verrätst du mir, dass ich gleichzeitig einen mächtigen Energiedurchsatz habe. Oder beim Joggen – wenn ich zu schnell war und dadurch im anaeroben Bereich, welcher keinen Trainingseffekt verursacht, meldest du mir das hinterher sofort zurück.“

„Und manchmal – sehr selten, aber es kommt vor – genieße ich sogar eine nächtliche Fressattacke gegen eine Unterzuckerung.“

„Die Nächte mit dir sind toll.“, säuselt der Diabetes.

„Ja, darüber wollte ich auch schon mit dir reden.“, sage ich, „Mein Schlaf ist nicht so besonders erholsam dank einer verschlafenen Unterzuckerung pro Nacht. Hin und wieder brauche ich Erholung, ich kann mich nicht auch noch nachts um dich kümmern.“

Der Diabetes schmollt kurz.

Dann sagt er: „Kompromiss: wenn wir kurz vor dem Schlafengehen intensiv Zeit miteinander verbringen, lasse ich dich danach in Ruhe.“

„Deal.“, sage ich.

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